Gedanken zu den Grenzen innerhalb
der Vielfalt des Orgelbaus
Wer bedenkt nicht immer
wieder den Sinn seines Tuns, stellt ihn in Frage, ja hinterfragt ihn ständig?
Wir Orgelbauer sind dazu
besonders herausgefordert, denn wir stellen dabei fest, daß die Gestalt
des Objekts unserer Mühen keineswegs hinreichend, geschweige denn
bis ins letzte definiert werden kann.
Obschon die Orgel als Instrumententypus
nach längst bekannten Prinzipien und für eine im allgemeinen
längst bekannte musikalische Literatur gebaut wird, muß die
Konzeption der einzelnen Orgel - einer vorhandenen wie einer erst zu errichtenden
- stets neu beschrieben werden.
Zwar hat die Orgel, ähnlich
wie bei Violine oder Klavier, in ihrer Entwicklung als Musikinstrument
ein Endstadium erreicht, das wesentliche Neuerungen so gut wie ausschließt,
versteht man die Orgel als ein Musikinstrument, das allein mittels der
Kraft und der Kunst des Organisten zum Klingen gebracht wird - und das
Bild dieser Orgel ist spätestens seit Michael Praetorius (um 1618)
fertig gezeichnet.
Dennoch ist sie als Einzelinstrument
- und anders als Violine oder Klavier - fast unendlich variierbar und entzieht
sich dadurch jeder Standardisierung.
Läßt man sie
überdies noch als Maschine, als Musikapparat gelten, so eröffnet
sie technischen (bis hin zu elektronischen) Experimenten ein weites Feld;
allerdings vergrößern die so geschaffenen Möglichkeiten
unweigerlich den Abstand zwischen dem Organisten und dem Instrument.
Im Spannungsfeld zwischen
eigentlichem Prinzip der Orgel und Auswahl aus den vielfältigen Möglichkeiten
für die Realisierung des jeweils einzelnen Konzepts findet Orgelbau
zwangsläufig statt.
Worin liegt der Grund dafür,
daß bei der Orgel eine derart breite Vielfalt und Wandelbarkeit besteht?
Zu nennen sind zwei technische
Erfindungen, die dem Instrumentalisten die Flöte gleichsam vom Mund
und aus der Hand genommen haben, mechanische Einrichtungen, die zwischen
den Menschen und sein Instrument geschoben wurden und auf diese Weise die
Flöte zur Orgel machten.
Da ist zum einen die Erfindung
der künstlichen Windspeicherung (für die Hydraulis im 2. vorchristlichen
Jahrhundert), zum anderen die Einführung des Wellenbretts (im 14.
Jahrhundert), das die Tastenbewegung zu einem von der Taste entfernten
Pfeifenventil zu übertragen vermag. Im Gefolge dieser beiden Erfindungen
brauchte de facto bei Größe und Ausstattung der Orgel kaum mehr
Rücksicht genommen zu werden auf menschliche Kräfte und Maße,
von denen sich die Orgel immer unabhängiger machte, folglich größer
und wandelbarer wurde. Insofern wird seit 600 Jahren ein Orgelideal verfolgt,
das sich hinter jener Vielzahl von Realisationen kaum greifen und allenfalls
als höchst abstraktes Prinzip beschreiben läßt.
Künstliche Windspeicherung
und Wellenbrett als Voraussetzung für einen sehr freien Umgang mit
Pfeifenmaßen und Pfeifenzahl führten spätestens seit dem
17. Jahrhundert zum Bau auch von beträchtlich großen Orgeln
mit Frequenzzahlen von der unteren bis zur oberen Hörgrenze (etwa
16 Hz bis 10.000 Hz) und mit Schallpegelzahlen, die erzittern lassen. Und
dank weiterer technischer Kraftspender (Barkermaschine, Pneumatik, Elektrik,
Elektronik) wurde es möglich, die Orgel derart zu vergrößern,
daß das letzte Register in einer akustisch kaum mehr wahrnehmbaren
Entfernung vom Organisten eingebaut werden kann.
Abkopplung des Instrument
„vom Menschen“ und Vielfalt möglicher Gestaltungsweisen des einzelnen
Konzepts eröffnen Chancen, begründen aber zugleich einen Zwang
zur Besinnung auf die Grenzen des Orgelbaus.
Denn mit einer jeden Entscheidung
für ein konkretes Orgelkonzept legt man sich fest, indem man Alternativen
ausschließt, die gleichfalls diskutabel und vernünftig wären.
So läßt sich jedes Konzept auch unter dem Aspekt seiner „Mängel“
betrachten.
Dabei leuchtet es ein, daß
es im Kern doch um die Prioritäten geht, die durch die Entscheidung
für ein bestimmtes Konzept gesetzt werden. Diese am realen Instrument
zu sehen und zu nutzen ist Aufgabe des Interpreten.
Ist das Feld möglicher
Konzepte demnach zwar offen - sowohl für die klangliche Gestalt als
auch für die räumliche Anlage -, so setzt doch jede Entscheidung
für ein bestimmtes Konzept und damit für dessen Priorität
eine unwiderrufliche Grenze. Und die Hoffnung, für das einzelne Instrument
sogar eine allgemeingültige Konzeption zu finden, kann sich nicht
erfüllen.
Jedes Orgelinstrument repräsentiert
innerhalb der Orgelbaugeschichte immer nur ein geradezu winziges Einzelbeispiel,
einen Mosaikstein jenes großen Orgel-“Bildes“, das sich aus der Summe
aller (historisch relevanten) Orgelinstrumente zusammensetzt. Im Bewußtsein,
mit einem Orgelkonzept nur die Farbe eines einzelnen Mosaiksteins zu bestimmen
- die freilich, je kräftiger sie leuchtet, desto mehr auch das Gesamtbild
belebt-, entsteht die Bereitschaft für die Wahrnehmung der Grenzen
und der Mut, ein Konzept in die Tiefe hinein zu entwickeln und gerade nicht
in die Weite der Möglichkeiten. Dies aber bedeutet, daß die
Priorität im Blick auf diejenigen Grenzen gesetzt werden, in denen
die Gestaltung des einzelnen Orgelkonzepts in der Regel erfolgt, nämlich:
- in den räumlichen
Grenzen des Aufstellungsortes,
- in den stilistischen Grenzen
der beabsichtigten Ausrichtung des Instruments,
- in den ökonomischen
Grenzen des jeweiligen Budgets.
Dabei ist ohne Belang, ob
5 oder 50 Register zur Disposition stehen.
Es bleibt aber folgendes
zu bedenken: Akustische Gegebenheiten, wie die relativ geringe Schallgeschwindigkeit
(von 333 m/sec) und die Schalldämpfung durch die uns umgebende Luft
steuern und begrenzen die Hörbarkeit eines Klanges in bestimmter Weise.
In der Folge dieser Gesetzmäßigkeit bietet eine große
Registerzahl nur scheinbar jede beliebige Farbmischung, denn direkt beieinander
stehen und wirklich „miteinander“ klingen können jeweils nur zwei
Register - das zweite ist zugleich Barriere zwischen erstem und drittem.
Beengte räumliche Verhältnisse
am Orgelstandort verhindern bei großer Registerzahl geradezu eine
Präsenz des Klanges, weil nur ein Register in der ersten Reihe stehen
kann, aber die hinteren Register um so mehr an Direktheit einbüßen,
je zahlreicher sie sind. Bei einem kleinen Raum wird man also die Innenarchitektur
zum Maßstab der Orgeldisposition machen. Für die musikalischen
Ansprüche an das Konzept bleibt entscheidend, die Adäquatheit
von klanglicher Ausrichtung des Instruments und auf ihm darzubietender
Orgelliteratur anzustreben.
Es gilt aber auch, bewußt
zum Budget zu stehen und - mit Mut zum Machbaren - den Rahmen der Ausstattung
so zu wählen, daß klangliche Qualität und technische Funktionsfähigkeit
des Instruments als die Prioritäten des Konzepts gewährleistet
sind.
In der Kunst wird das Prinzip
der sparsamen Anwendung von Gestaltungsmitteln oft dazu benutzt, einer
Aussage besondere Klarheit und Ausdrucksstärke zu verleihen. Daß
hochgradiges Vermischen vielfältiger Einzelsubstanzen alles andere
als ergiebig ist, läßt sich an Einzelbeispielen veranschaulichen:
Die gleichzeitige Anwendung aller Farben des Spektrums führt zu weiß,
das gleichzeitige Tönen aller hörbaren Frequenzen ergibt weißes
Rauschen.
Bemerkenswert formuliert
Ernst Kern (in „Rückkopplungsphänomene zwischen Musiker und Musikinstrument“,
Würzburg 1972), daß „nicht die Aussendung der (akustischen)
Information an sich, sondern im Gegenteil ihre Reduktion,... die Auswahl
der Information die intellektuelle Leistung“ ist, und der gleiche Autor
zitiert Karl Steinbuchs Satz: „Es ist das Kennzeichen künstlerischen
Gestaltens, mit einem Minimum an Signalen ein Maximum an Information zu
übermitteln“.
Gilt nicht in ähnlicher
Weise, daß die gelungene Auswahl aus der Fülle der Ausstattungsmöglichkeiten
jedes hochwertige Orgelinstrument auszeichnet und daß der sparsame
Umgang mit Orgelregistern etwas mit Orgelkunst (sowohl des Erbauers wie
ebenso des Spielers) zu tun hat? Der britische Regisseur Peeter Brook würde
sagen: „Eine Riesendisposition hat ebensoviel oder ebensowenig etwas mit
Gestalten eines Mediums zu tun, wie die beste Suppe jene wäre, in
die man alles hinein tut, was man hat“.
Wer ständig im Fertigungsprozeß
steht, Erz und Holz zu einem tönenden Musikinstrument zu formen, ist
bestrebt, nicht nur für die Klangqualität, sondern auch für
die technische Funktionssicherheit und –tüchtigkeit des Instruments
zu sorgen.
Sichere und sensible Handhabung
wird am ehesten erzielt, wenn der Organist mit eigener Kraft die Schleife
zieht und das Ventil bewegt.
Die mechanische Einrichtung
besitzt den Vorteil, dem Organisten das Register- und Tonventil sozusagen
„in die Hand“ zu geben. Gewiß kann moderne Technik jeden Wunsch nach
Automatisierung erfüllen - bis hin zu Selbstspielanlagen, die durch
eine Uhr ausgelöst werden.
Doch bleibt unbestreitbar,
daß sich die (physische wie psychische) Entfernung zwischen Spieler
und Instrument in dem Maße vergrößert, in dem die technischen
Abläufe in der Orgel komplizierter werden (ganz abgesehen von den
sich in gleicher Weise vermehrenden Störungsquellen).
Die Orgel kann nicht anders,
sie ist immer auch „ein Stück“ Maschine, doch verkörpert sie
um so mehr ein Musikinstrument im traditionellen Sinne, je mehr sie auf
technische Tricks verzichtet und je inniger der Organist mit ihr verbunden
ist. Diese „Verbindung“ besteht nicht nur im Äußerlich-Mechanischen,
denn „in dem gleichen Maße, in dem wir durch fremde Kraft Schwierigkeiten
aus dem Weg räumen lassen, nimmt die Kraft wahrer Erlebnisfähigkeit
in uns ab“ (Helmut Walcha in: Musik und Kirche 1938). Positiv formuliert
heißt das: Im gleichen Maße, in welchem wir mit eigener Kraft
die Schwierigkeiten des Umgangs mit der Orgel meistern, wächst die
Erlebnisfähigkeit in uns.
Das Ausschöpfen der
ganzen Vielfalt von Möglichkeiten am einzelnen Orgelobjekt, so verlockend
es erscheinen mag, ist daher ein trügerische Ziel.
Es gilt hingegen, sich Klarheit
zu verschaffen über die „Grenzen“, denen der Orgelbau seinem historisch
geprägtem Wesen nach unterliegt, aber ebenso auch über die Grenzen,
die dem jeweiligen Konzept eines Instruments gezogen sind. Innerhalb dieser
Grenzen jedoch ein Höchstmaß an klanglicher Qualität und
technischer Zuverlässigkeit zu erzielen, ist weiterhin für den
Orgelbau eine verpflichtende und lohnende Aufgabe.
Johannes
Rohlf
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