Die Durchschlagzungen
der neuen Rohlf-Orgel für die Marktkirche in Hamburg-Poppenbüttel
Erstmals aus der Zeit um
1000 v. Chr. ist die Verwendung von Durchschlagzungen mit aufgesetztem
Resonanzkörper im fernöstlichen „Sheng“ (auch „Mundorgel“ genannt)
belegt, bevor diese im 18. Jh. auch in Europa Fuß fassten und zur
Entwicklung von Harmonium, Mund- und Ziehharmonika sowie Orgelregistern
(in der zweiten Hälfte des 19. Jh.) führten.
Die durchschlagenden Zungenstimmen,
wie wir sie in den Orgeln des 19.Jh. finden, haben eine den aufschlagenden
Zungen verwandte Wirkungsweise: die Frequenz ihrer Tonhöhe ist wesentlich
bestimmt durch die Frequenz des Zungenblattes und unbeeinflusst durch veränderte
Raumtemperatur.
Herr Ernst Zacharias, ehemals
Ingenieur bei Hohner in Trossingen, benutzte das klassische Prinzip der
Durchschlagzunge, um ein neues Instrument mit „gewendeten“ Durchschlagzungen
zu entwickeln, "Claviola" genannt, bei welchem die Zungenfrequenz durch
die Schallkörper- oder Becherlänge bestimmt wird, wie bei der
Labialpfeife. („Der Zungengenerator – Eine neue Art
der Durchschlagenden Zunge“ in ISO Journal N° 5, Juli 1999).
Die erste von uns im Jahr
1999 gebaute sogenannte „gewendete“ Zunge oder „Zacharias-Zunge“ dieser
Bauart steht in der ev.-luth. Friedenskirche
Eckenhaid bei Erlangen (ISO Journal N°
6, November 1999) auf einer gemeinsamen Windlade
mit dem Labialpfeifenwerk und ist in beschränktem Umfang von 30-80
mmWS über einen auf die Balgplatte wirkenden Fußhebel in der
Lautstärke zu variieren. Der besondere Reiz dieser Durchschlagzungen
liegt in der dynamischen Verwendbarkeit durch Veränderung des Winddrucks
bei gleichzeitig stabiler Stimmhaltung.
Dieses Register hat nun zwei
Nachfolger bekommen, deren Charakteristika sich auf Grund unserer Forschungen
grundlegend geändert haben. Diese beiden Register – Klarinette 8‘
und Saxophon 8‘ – wurden in der Marktkirche
in Hamburg-Poppenbüttel aufgestellt (35 III/P, 2006 Orgelbau Johannes
Rohlf), doch dieses Mal auf einer eigenen Windlade, mit separater Windversorgung
und einem Winddruck von 0 bis 300 mmWS.
Projektdefinition
Die von uns angestrebte
Weiterentwicklung führte zu folgender Aufgabenstellung: Bereitstellung
stets ausreichender Windmenge bei stark unterschiedlichem Winddruck und
mit eigener Windversorgung für die Durchschlagzungen. Der Winddruck
wird durch unterschiedliches Gewicht auf der Balgplatte erzeugt, nicht
durch Verkleinerung des Kanalquerschnitts. Die Winddruckveränderung
erfolgt ohne Zeitverzögerung über das bewegliche Balggewicht,
was kleine Balgmaße erforderderlich macht. Dieses Ziel wurde planerisch
umgesetzt und mündete in die technische Anlage:
- Beide Register stehen
in chromatischer Abfolge auf einer Schleiflade, die über der Balganlage
hinter der Orgel installiert ist.
- Die Traktur zu diesem
Hochdruckwerk ist abkoppelbar und greift in die Mechanik des davorstehenden
III. Manuals, dem Schwellwerk, ein.
- Die Tonventile sind möglichst
klein gehalten, um den Druckpunkt bei vollem Wind im Griff zu behalten.
- Eine Ventus-Windmaschine
speist einen speziellen Schwimmerbalg. (Details siehe Zusammenfassung am
Ende).
Besonderes Augenmerk galt
dem Bau der Drossel, denn die Anlage hatte eine starke Neigung zum Tremulieren.
Nach erfolglosen Versuchen mit „druckneutralen“ Drosseln, führte eine
herkömmliche Rollendrossel zum Ziel.
Ursache des Tremolos war
das relativ große Balggewicht auf kleiner Balgfläche, bewußt
so angelegt, um mit wenig Bewegung möglichst viel Druckveränderung
zu erreichen. Durch eine einzustellende Druckfeder, die die Beweglichkeit
der Wippe, welche die Rolle steuert, direkt an der Achse abbremst, werden
tremulierende Druckschwankungen im Windsystem vollständig abgedämpft. |
Zungen
Charakteristik der „gewendeten“
Zunge ist der „verkehrte“ Einbau der durchschlagenden Zunge, d.h., die
Zunge wird vom Winddruck aus der Stimmplatte herausgedrückt und erzeugt
in der Folge eine stehende Welle im aufgesetzten Schallbecher.
Willkommener Nebeneffekt
dieser Anordnung: diese Zungenpfeifen werden am tonangebenden Becher gestimmt
und ein Nachstimmen bei Temperaturveränderung wie bei den Aufschlagzungen
ist nicht erforderlich. Je nach Mensur der Becher gibt es nur eine gelegentliche
Nachstimmung wie bei den Labialpfeifen. Ideal sind Messingzungen, die wir
zum Großteil dankenswerterweise von der Fa. Hohner in Trossingen
beziehen konnten. Diese Zungen zeichnen sich durch ihre präzise Fertigung
aus, die durch die sehr genaue Einpassung der Zungen in die Stimmplatten
eine leichte Ansprache ermöglichen. Zur Verwendung kamen Zungen für
Bassmundharmonikas und Claviola-Zungen im Diskant.
Pfeifenwerk
Die Pfeifenkörper beider
Register Klarinette 8‘ und Saxophon 8‘ sind aus Eichenholz gebaut. Die
konischen Becher der Klarinette sind mit halber Becherlänge etwas
länger als Lambda/4. Das zylindrische Saxophon mit quadratischem Querschnitt
hat volle Becherlänge mit Lambda/2; aus Platzgründen ist es in
der Mitte um 180° gekröpft und oben beidseitig offen (siehe Zeichnung
auf Seite 4). Die Windführung erfolgt wie bei einer labialen Holzpfeife
zunächst durch den Pfeifenfuß und den Kern. Die Zungen sind
am unteren Becherende aufgeschraubt. Der Wind wird im ebenfalls aufgeschraubten
„Vorschlag“ zur Zunge geleitet. Der Vorschlag hat jeweils quadratischen
Querschnitt in Pfeifenbreite und ist fast genausolang wie die Bauhöhe
der Pfeife. Das Luftpolster im ausgefrästen Vorschlag hat den gleichen
Effekt wie ein bei Durchschlagzungen üblicher langer Stiefel.
Durch diese Bauweise konnte
weitgehend auf Ledermembranen als Ansprachehilfe verzichtet werden. Lediglich
die ersten 18 Töne jedes Registers wurden aus praktischen Gründen
mit verkürztem Vorschlag und dann nötig werdenden Ledermembranen
gebaut.
Ein negativer Einfluß
der Ledermembranen auf die Stimmhaltung konnte bei Versuchen nicht festgestellt
werden, deren Einsatz ist unproblematisch. Als sehr vorteilhaft für
die Stimmhaltung hat sich eine ausreichend große Fußbohrung
erwiesen (siehe Mensurentabelle).
Verwendung
Eine erste akustische Kostprobe
in der Öffentlichkeit war am Tag der Orgelweihe am 03.09.2006 zu hören.
Sowohl solistisch wie auch im Gebrauch mit anderen Registern und zur Chorbegleitung
waren die Hochdruckzungen mit Ihrem ausgeprägt kraftvollen und dynamischen
Sound im voll besetzten Kirchenraum zu vernehmen. Was bis dahin klanglich
nur ungefähr vorstellbar war, wurde beim Einweihungskonzert verwirklicht.
Zu weiterführendenen
Informationen über diese Zungenstimmen sei auf die unten aufgeführte
Literatur verwiesen.
Mathias Jung, März
2007
Literaturverweise
- „Hat man Töne – Claviola von
Hohner“ in: Instrumentenbau-Zeitschrift 11-12/1995, S.32ff (Ernst Zacharias)
- „Der Zungengenerator“: ISO Journal
N° 5, Juli 1999, S. 63-68 (Anja Rohlf),
- „Die Zacharias-Zunge": ISO Journal
N° 6, Nov. 1999, S. 40–43 (Johannes Rohlf)
- „Friedensspiel“
Klangbeispiele der Eckenhaider Orgel: CD Ambiente 1999 / ACD 9925 (Reinhold
Morath)
- „Die Zacharias-Zunge in Eckenhaid“:
Die Hausorgel, Heft 12/2001, S.32-34 (Mathias Jung)
- „Die dynamische Orgel“ in: Ars Organi
Heft 1, März 2002, S.19-21 (Ernst Zacharias)
- „Register mit der gewendeten Zunge“:
Die Hausorgel, Heft 13/2002, S.37ff (Ernst Zacharias) |
Saxophon
8‘
zylindrisch quadratische
Becher mittig gekröpft, beidseitig offen mit Stimmblech
Zunge
|
Becher
|
klingende
Länge
|
Becher
licht
|
Holz-
dicke
|
Pfeifenlänge
= Bauhöhe
|
Fuß-
bohrung
|
Stimmplatte
außen
|
Kontra A
|
C
|
2640
|
24 x 24
|
5
|
1365
|
15
|
58 x 22
|
A
|
c°
|
1300
|
18 x 18
|
5
|
690
|
12
|
58 x 17
|
b°
|
c‘
|
630
|
14 x 14
|
5
|
350
|
10
|
38 x 10
|
b‘
|
c‘‘
|
320
|
12 x 12
|
5
|
190
|
9
|
38 x 10
|
h‘‘
|
c‘‘‘
|
160
|
10 x 10
|
5
|
110
|
8
|
38 x 10
|
Klarinette 8‘
einseitig konische Becher
mit Stimmblech
Zunge
|
Becher
|
klingende
Länge
|
Becher
oben licht
|
Holz-
dicke
|
Kern-
länge
|
Fuß-
bohrung
|
Stimmplatte
außen
|
Kontra A
|
C
|
1580
|
24 x 72
|
5
|
45
|
15
|
58 x 22
|
A
|
c°
|
780
|
18 x 54
|
5
|
40
|
12
|
58 x 17
|
b°
|
c‘
|
375
|
14 x 42
|
5
|
35
|
10
|
38 x 10
|
b‘
|
c‘‘
|
180
|
12 x 36
|
5
|
30
|
9
|
38 x 10
|
h‘‘
|
c‘‘‘
|
85
|
10 x 30
|
5
|
30
|
8
|
38 x 10
|
Zusammenfassung der Eckdaten
1. |
Hochdruckwerk mit zwei Registern
auf Schleiflade und Windschweller von 0 bis 300 mmWS |
2. |
Balggewicht mit ca. 20 kg,
kugelgelagert verschiebbar über separaten Schwelltritt. |
3. |
Separate Windversorgung
mit Schwimmerbalg (80 x 30 cm) und Rollendrossel |
4. |
Spieltraktur angehängt
an Schwellwerk (Koppel ein/aus) |
5. |
Ventilschlitzgröße
auf C = 60 x 8 mm |
6. |
Becherlänge bestimmt
die Tonhöhe |
7. |
Tonhöhe der gewendeten
Zunge muß tiefer sein als die Becherresonanz: kleine Terz (300 cent)
bei C bis ¼-Ton (50 cent) bei g‘‘‘. |
8. |
Stimmung bleibt über
den ganzen Schwellbereich annähernd konstant. |
9. |
Tonabstand von Zunge zu
Becher ergibt maximalen Stimmbereich. |
10. |
Größerer Tonabstand
verbessert Stimmhaltung und reduziert Lautstärke (Intonation). |
11. |
Kleinerer Tonabstand ergibt
schnellere Ansprache und größere Lautstärke (wichtig im
Diskant). |
12. |
Montage der Zunge mit ca.
1/10 Becherlänge Abstand vom Kern. |
|